Grenzenlose Unternehmung

Grenzenlose Unternehmung
von Professor Dr. Dr.h.c.mult. Arnold Picot und Dr. Rahild Neuburger
In der Informationsgesellschaft sind neuartige Organisationsformen zu beobachten, die mitunter als grenzenlose Unternehmen bezeichnet werden. Grenzenlos deshalb, weil gestützt auf die zunehmende Durchdringung mit Informationstechniken und Internet flexible, problembezogen konfigurierte Organisationsstrukturen entstehen. Deren rechtliche, fachliche oder hierarchische Grenzen sind aufgrund der leistungsfähigen Vernetzung mit Dritten oft schwer zu erkennen, zudem dehnen sie sich ständig aus und verändern sich. Unternehmen können auf diese Weise mit Kunden, Lieferanten, Märkten, Ressourcen oder Partnern zusammenarbeiten, die zuvor gar nicht oder nur zu prohibitiven Kosten zugänglich waren, also jenseits der traditionellen Unternehmensgrenzen lagen. Zu den wesentlichen Kennzeichen grenzenloser Unternehmen zählen Modularisierung und Prozessorientierung sowie Standortverteilung und Vernetzung.
Kernkonzept der Modularisierung ist die kundenorientierte, integrierte, ganzheitliche Aufgabenabwicklung durch so genannte Module, d.h. dezentrale, abgeschlossene, kleine Einheiten. Ein klassisches Beispiel ist ein kundenorientiertes Modul in einer Versicherungsgesellschaft, in dem die gesamte Abwicklung eines Schadenfalls von der Schadensaufnahme über die -bearbeitung bis zur -regulierung ganzheitlich abgewickelt wird. Übernimmt die Abwicklung eine einzelne Person, wird in der Theorie auch von Autarkiemodell gesprochen; sind mehrere Personen als Team für die Abwicklung verantwortlich, handelt es sich um ein so genanntes Kooperationsmodell. Beide Modelle lassen sich nur deshalb realisieren, weil Informations- und Kommunikationssysteme zur Verfügung stehen, die dem einzelnen Sachbearbeiter bzw. dem Team die benötigten Informationen und Daten flexibel zur Verfügung stellen bzw. die Kommunikation und Koordination sowohl im Team als auch mit weiteren internen oder externen Ansprechpartnern effizient unterstützen, vereinfachen und auch teilweise automatisieren. So kann der Kundenbetreuer bei Bedarf interne Experten oder externe Gutachterbüros und Dienstleister in die Aufgabenabwicklung einbeziehen. Voraussetzung ist, dass letztere ebenfalls als relativ autonome Module flexibel agieren können. Als modernes Beispiel sind internetbasierte Geschäftsstrukturen im Geschäfts- oder Endkundenbereich zu nennen: Der Kunde erhält über das Modul „Portal“ Zugang zu potenziellen Leistungsanbietern (i.d.R. zu Portalanbietern externer Module), die er online ansprechen, kombinieren und für seine Problemlösung aktivieren kann.
Eng mit der Modularisierung ist das Prinzip der Prozessorientierung verbunden, das die Organisationsstruktur nach den zugrunde liegenden Prozessen gliedert. Ein Prozess wird dabei definiert als eine Abfolge von Tätigkeiten, die zu einem bestimmten Ergebnis führen. Der Grundgedanke der Prozessorientierung ist nicht neu. Neu sind jetzt die Integration von Prozessorientierung und Modularisierung im Sinn von organisatorischen Einheiten, die für die ganzheitliche Abwicklung eines (Teil-)Prozesses verantwortlich sind, sowie die Möglichkeit der unternehmensübergreifenden Prozessorientierung, bei der sich die Module verschiedener Unternehmen mit einfachen Schnittstellen verknüpfen lassen. Beispiel ist der oben erwähnte Versicherungssachbearbeiter, der – quasi als Modul – für die gesamte Abwicklung des Prozesses der Schadensbearbeitung verantwortlich ist, für den Kunden als Ansprechpartner zur Verfügung steht und sich bei Bedarf mit anderen unternehmensinternen bzw. -externen Modulen (z.B. externes Gutachterbüro) datentechnisch und organisatorisch vernetzt. Um Spezialisierungsvorteile auszunützen, kann es sich dabei auch um funktionsorientierte Module handeln, die für verschiedene Kunden und Partner tätig sind. Voraussetzung sind Informations- und Kommunikationstechniken, v.a. das Internet, welche die technische Vernetzung der prozess- bzw. funktionsorientierten Module zunehmend unabhängig von ihrem jeweiligen geographischen, rechtlichen oder organisatorischen Standort erlauben. In Folge lassen sich standortverteilte, mobile Formen der Arbeitsteilung realisieren, bei denen die organisatorische Abwicklung der zugrunde liegenden Aufgaben jenseits von bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen, hierarchiebedingten, standortbezogenen oder fachlichen Grenzen erfolgt. Basis sind jeweils auf ihre Kernkompetenzen spezialisierte, prozess- und/oder funktionsorientierte Module in Form von ganzen Unternehmen, Unternehmenseinheiten oder Personen, die sich aufgaben- und projektbezogen zusammenschließen und vernetzen. Dabei kann die Vernetzung
– langfristig ausgerichtet sein oder sich nur auf die Abwicklung einer abgeschlossenen Aufgabe beziehen,
– sich durch die zugrunde liegende Aufgabe automatisch ergeben oder bewusst gesteuert werden,
– auf unterschiedlichen impliziten bzw. expliziten vertraglichen Konstellationen basieren,
– eher kooperativ oder hierarchisch ausgelegt sein,
– einzelne Funktionsbereiche im Unternehmen oder das gesamte Unternehmen umfassen und
– an einem Standort erfolgen oder global verteilt sein.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Konstellationen, der flexiblen Möglichkeiten der Vernetzung und Konfiguration sowie der sich ständig ändernden Unternehmensverbindungen lässt sich oft nicht mehr erkennen, welche Unternehmen an der Aufgabenabwicklung beteiligt sind und wo die tatsächlichen rechtlichen, fachlichen und hierarchischen Grenzen liegen. Daher entstehen Unternehmensgebilde, die – zumindest im Vergleich zu klassischen Unternehmensstrukturen – grenzenlose Züge annehmen.
Grenzenlose Unternehmen treten in unterschiedlichen Ausprägungen auf. Häufig unterschieden werden virtuelle Unternehmen, Business Webs und Supply Chains.
Virtuelle Unternehmen sind „künstliche“ Unternehmen, denen es gelingt, die individuellen Kernkompetenzen verschiedener Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette aufgaben- und problemorientiert, also kundenbezogen, zu integrieren. Ist die Aufgabe abgeschlossen, löst sich das virtuelle Unternehmen in der Regel wieder auf. Durch das Prinzip der aufgaben- bzw. problemorientierten Vernetzung und die Möglichkeit der Zusammenarbeit und Vernetzung mit einer Vielzahl von Akteuren verfügt ein virtuelles Unternehmen über ein sehr viel höheres Potenzial an Ressourcen und Kompetenzen sowie über sehr viel mehr Kapazität, als es in seinem Kernbereich als rechtliche Unternehmenseinheit aufgrund der dort verfügbaren menschlichen, technischen, infrastrukturellen und finanziellen Ressourcen besitzt. Im Vergleich zu klassischen, hierarchischen Unternehmen sind virtuelle Unternehmen in der Lage, schnell und flexibel auf Kunden- und Marktanforderungen zu reagieren. Vernetzungen mit Geschäftspartnern in allen Funktionsbereichen erweitern räumliche und fachliche Kapazitäten. Flexibilität und Leistungssteigerung in virtuellen Unternehmen sind jedoch nur dann erzielbar, wenn bestimmte Realisierungsprinzipien und Anforderungen erfüllt sind. Zu ihnen zählen v.a. das schon angesprochene Prinzip der Modularisierung, ein flexibler Informations- und Kommunikationsaustausch sowie der Aufbau von Vertrauensbeziehungen.
Business Webs gelten als typische Organisationsform für die Informationsgesellschaft. Das zugrunde liegende Prinzip ist zunächst dasselbe wie bei virtuellen Unternehmen: Die Vernetzung verschiedener Kernkompetenzen zu einer Gesamtleistung. Im Gegensatz zu virtuellen Unternehmen handelt es sich aber nicht um die kurzfristig angelegte Vernetzung mehrerer Unternehmen zur Abwicklung einer Aufgabe, sondern um die Erstellung einer Gesamtleistung für den Kunden, an der sich immer mehr Unternehmen beteiligen. Denn je mehr Unternehmen sich beteiligen, desto größer wird der Nutzen für die übrigen Unternehmen, da sich durch die Teilnahme eines zusätzlichen Unternehmens der Wert des gesamten Business Webs z.B. aus der Sicht des Kunden erhöht. Diese sog. Netzeffekte sind konstitutiv für Business Webs. Netzeffekte entstehen immer dann, wenn sich der Nutzen für die Teilnehmer eines Netzes durch einen zusätzlichen Nutzer erhöht. Beispiel ist das Betriebssystem eines Universalrechners: Der Nutzen für die Nutzer des Betriesbssystems und für die Entwickler von Anwendungsprogrammen für das Betriebssystem steigt mit jeder neuen Installation, da sich die Anzahl der Nutzer und der Wert von Anwendungslösungen auf diesem Betriebssystem dadurch erhöht. Grundsätzlich geht es bei Business Webs nicht darum, den Wert des einzelnen mitwirkenden Unternehmens zu erhöhen, sondern den Wert des gesamten Business Webs. Basis von Business Webs ist eine Art Plattform z.B. in Form eines technischen Standards (z.B. Betriebssystem), die von einem Unternehmen, dem so genannten Shaper-Unternehmen, zur Verfügung gestellt wird. An diese Plattform schließen sich andere Unternehmen, die so genannte Adapter-Unternehmen (z.B. Programmentwickler, Service-Anbieter) an, indem sie Komplementärleistungen erbringen. Ein anderes Beispiel ist das Internetportal Yahoo, das eine Plattform zur Verfügung stellt, an die sich andere Adapter-Unternehmen anschließen, um Komplementärleistungen wie Shops, Informationsleistungen etc. zu erbringen.
Unter Supply Chain Management wird die elektronische und organisatorische Vernetzung der Zulieferkette in relativ reifen Industrien verstanden. Sind die Anwendungssysteme der an der Wertschöpfungskette – z.B. für die Erstellung eines Kraftfahrzeugs – beteiligten Unternehmen durch EDI, Web-Services oder andere Standards vernetzt, lassen sich nicht nur Lieferungen einfacher abwickeln, sondern v.a. auch Daten und Informationen über Nachfrage, Markttrends, Bestandsentwicklungen usw. zwischen den beteiligten Unternehmen unproblematisch und ohne Medienbrüche teilen. In Folge können die beteiligten Unternehmen intensiver zusammenarbeiten, ihre Bestände, Bestellungen und Produktionskapazitäten besser aufeinander abstimmen und neuartige Steuerungsmodelle für die Supply Chain erproben. So kann das die Zulieferkette steuernde Unternehmen (meist das Herstellerunternehmen) ausgehend von dem vom Kunden geforderten Bedarf die Wertschöpfungsprozesse der beteiligten Zulieferer steuern, freie Kapazitäten der Lieferanten abfragen oder sich über die Verfügbarkeit von Produkten bzw. Kapazitäten informieren. Genauso können Zulieferunternehmen jeder Wertschöpfungsstufe z.B. direkt auf die Bedarfsdaten der Herstellerunternehmen zugreifen und ihre Produktions-, Lager- und Beschaffungsprozesse auf den tatsächlichen am Kunden orientierten Bedarf ausrichten und nicht auf den Bedarf der direkten Abnehmer. Durch diese intensive Zusammenarbeit zwischen den an der Zulieferkette beteiligten Unternehmen werden nicht nur Liefertreue und Servicegrad gegenüber dem Endverbraucher verbessert sowie Kapitalbindung, Koordinations- und Produktionskosten gesenkt, sondern es lösen sich bestehende rechtliche und wirtschaftliche Grenzen innerhalb der Zulieferkette tendenziell auf. Denn letztlich ist dasjenige Unternehmen erfolgreich, dem es gelingt, seine Zulieferkette kosten- und marktorientiert zu organisieren und zu steuern.
Insgesamt stellen Grenzenlose Unternehmen – verstanden als flexible, aufgabenorientiert konfigurierte Unternehmen mit wechselnden, nicht mehr eindeutig erkennbaren Grenzen – ein vielversprechendes Modell der unternehmensinternen und v.a. unternehmensübergreifenden Organisation der Arbeitsteilung dar. Denn im Vergleich zu herkömmlichen Organisationsstrukturen lassen sich gleichzeitig Spezialisierungs- und Verbundvorteile realisieren, ohne dass der Management- und Abstimmungsaufwand erheblich zunimmt. Bei allen Potenzialen grenzenloser Unternehmen wird es jedoch immer externe Bedingungen geben, bei denen klassische Organisationsstrukturen auch zukünftig ihre Stärken haben. Hierzu zählen v.a. hohe Marktdynamik, vergrößerte Märkte/Globalisierung, zunehmende Verfügbarkeit leistungsfähiger Technologien im Bereich von Information, Kommunikation und Transport sowie der Abbau institutioneller Hindernisse. Daher sind grenzenlose Unternehmen nicht als Ersatz für bewährte klassische Formen der inner- und zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit oder als die einzig sinnvolle Form zu verstehen, sondern als eine wichtige Ergänzung und Bereicherung der Gestaltung der Arbeitsteilung, die unter bestimmten Bedingungen effizienter ist und sich damit zukünftig wohl noch stärker ausbreiten wird.
Literatur: Hagel III, J., Spider versus Spider. In: The McKinsey Quarterly Nr. 1, 1996, S. 5–18; Picot; A./ Neuburger, R., Neuartige Organisationsformen durch IuK – Grenzenlose Unternehmen, in: Klumpp, D./ Kubicek, H./ Roßnagel, A., Hrsg., next generation information society – Notwendigkeit einer Neuorientierung, Mössingen-Talheim 2003, S. 160–173; Picot, A./ Reichwald, R./ Wigand, R., Die Grenzenlose Unternehmung – Information, Organisation, Management, Wiesbaden 2003; Scholz, C., Strategische Organisation, Multiperspektivität und Virtualität, München 2000.

Lexikon der Economics. 2013.

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